Comicologie
Blogpost von Markus Luthe zur Europapolitik
Einer der Gründe, die beim britischen Wähler für den Brexit verfingen, war neben dem Gefühl der materiellen Fremdbestimmung durch Brüssel sicher auch die fehlende Transparenz europäischer Gesetzgebungsprozesse. Und da spielen die sogenannten Komitologie-Verfahren eine ganz unrühmliche Rolle. Darunter ist seit dem Vertrag von Lissabon (2009) ein System von Verwaltungs- und Expertenausschüssen zu verstehen, das für den Erlass der Durchführungsbestimmungen von EU-Rechtsakten verantwortlich ist. Niemand kennt die dort agierenden Experten und Aufmerksamkeit erregen sie erst dann, wenn wie 2013 beim berüchtigten Ölivenölkännchenverbot in Restaurants der verzapfte Unfug allzu offenkundig wird.
Nun scheint die Komitologie der Branche ein weitere Glanzleistung auftischen zu wollen: Am morgigen Mittwoch steht im Ständigen Ausschuss für Pflanzen, Tiere, Lebensmittel und Futtermittel - Sektion „Neuartige Lebensmittel und toxikologische Sicherheit der Lebensmittelkette“ (C20408) der Entwurf einer EU-Acrylamidverordnung (SANTE/11059/2016/CIS) zur finalen Verabschiedung auf der Tagesordnung. Und die bringt eine Menge ausufernder Reglementierung für das Gastgewerbe mit sich.
Worum geht es? Acrylamid in Lebensmitteln entsteht in der Maillard-Reaktion beim Backen, Braten, Grillen, Toasten und Frittieren durch Überhitzung von Stärke. Betroffene Lebensmittel sind zum Beispiel Chips, Pommes Frites, Knäckebrot, Kekse, aber auch Kaffee. Gefördert wird die Acrylamidbildung durch Zucker (Fructose und Glucose). Acrylamid steht im Verdacht, krebserregend und erbgutschädigend zu sein, auch wenn die Wirkung auf den Menschen wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt ist. Ein begründeter Schwellenwert für die Wirkungen kann derzeit noch nicht abgeleitet werden. Bei Untersuchungen des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) wiesen Kartoffelchips einen Acrylamidgehalt von 260 µg/kg und Pommes Frites einen Wert von 228 µg/kg auf.
Unter Ausschöpfung des europäischen Richtwertes von 600 µg/kg beträgt laut LGL die mögliche Aufnahme von Acrylamid bei täglichem Verzehr für die entsprechende Lebensmittelgruppe bei:
Produkt | Aufnahme Acrylamid in µg |
---|---|
1 Tüte Kartoffelchips (200 g) | bis zu 200 |
1 Portion Pommes Frites (240 g) | bis zu 144 |
1 Tüte Biskuits/Kräcker (200 g) | bis zu 100 |
20 g Knäckebrot | bis zu 9 |
40 g Frühstückszerealien, Vollkorn | bis zu 16 |
20 g Corn Crisps | bis zu 4 |
200 g Brot auf Weizenbasis | bis zu 16 |
Die Verbände des Gastgewerbes haben über den europäischen Dachverband HOTREC in zahlreichen Gesprächen mit der Kommission die Durchführung einer freiwilligen Kampagne („Code of Practices“) zur Aufklärung der Branche über die Acrylamidgefahren angeboten. Die Kommission beharrt ihrerseits aber auf einer gesetzlichen Regelung im Wege der nun im Entwurf vorliegenden Acrylamidverordnung, was ebenso ordnungspolitisch verfehlt wie unverhältnismäßig ist.
Diese Verpflichtungen kommen auszugsweise mit der Acrylamidverordnung auf die Branche zu:
- Werden Sandwiches/Toasts im Betrieb zubereitet, dürfen diese nur bis zur optimalen Bräunung getoastet werden. Küchenaushang und Verwendung eines Farbguides ist obligatorisch.
- Bei Zubereitung von Pommes Frites: Verwendung von Kartoffelsorten, die einen geringen Zuckergehalt aufweisen. Lagerung der Kartoffeln bei einer Temperatur von über 6 Grad Celsius. Rohe Pommes Frites soweit möglich waschen und 2 Stunden einweichen. Frittiertemperatur unter 175 Grad Celsius halten. Verwendung geeigneter Öle, wozu Händlerrat einzuholen ist.
- Küchenaushang und Verwendung eines Farbguides für Pommes Frites, dem der Zusammenhang zwischen Färbung des Lebensmittels und Acrylamidgehalt zu entnehmen ist („Pommes-Ampel“).
- „Größere, miteinander verbundene Unternehmen mit zentraler Versorgung“ müssen bei der Verarbeitung von Pommes Frites zusätzliche Maßnahmen ergreifen: Arbeiten mit standardisierten Betriebsabläufen und kalibrierten Fritteusen mit computer-basierten und auf Standardeinstellung programmierten Timern. Dokumentation sämtlicher Maßnahmen.
- „Größere, miteinander verbundene Unternehmen mit zentraler Versorgung“ müssen Probe- und Analysemaßnahmen dokumentieren und in einem der Verordnung entsprechendem Labor durchführen lassen. Die Laboranalyse kann durch Messung von Produktattributen ersetzt werden, sofern eine statistische Korrelation zwischen Prozessparameter und Acrylamidgehalt besteht. Die Probe- und Analyseverfahren sind mindestens einmal jährlich durchzuführen.
Was „größere, miteinander verbundene Unternehmen mit zentraler Versorgung“ sind, lässt der mit erkennbar heißer Nadel gestrickte Entwurf des Verordnungstextes gänzlich offen. Wie so häufig darf das deutsche Gastgewerbe hier wahrscheinlich bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe vom worst case ausgehen.
Im Klartext: In Zeiten massiv um sich greifender EU-Skepsis zwingt die Europäische Kommission auf Grundlage ungenügender wissenschaftlicher Erkenntnisse jeden gastronomischen Betrieb in EU27 per Gesetz zum Aufhängen von „Pommes-Ampeln“ und Toast-Comicstrips in der Küche! Wie unsensibel kann man nur sein?
Nur nebenbei bemerkt frage ich mich, ob die Farbskala je nach Betrieb, Druckerei oder Land Abweichungen aufweisen wird? Denn bekanntlich unterscheiden sich belgische Pommes Frites von den Varianten der Nachbarn dadurch, dass sie bei 130 Grad Celsius vorgebraten, auf zwei Grad abgekühlt und erst dann bei 175 Grad ausgebacken werden. Beginnt die belgische Farbskala dann kulturell bedingt dort, wo die deutsche schon endet?
Und überhaupt: Wie beugen wir der Acrylamid-Kontamination vor, wenn sich der Gast am Frühstücksbuffet sein Toast selbst zubereitet? Brauchen wir da nicht im nächsten Schritt Warnhinweise auf dem Toaster wie sonst nur auf Zigarettenschachteln? Oder wird dann eine viertelstündige und per Unterschrift zu dokumentierende Toastereinweisung für den Gast samt Abschreckungsberatung, wie etwa bei der Solariennutzung (UV-Schutz-Verordnung), ausreichen…?
Um die Farce abzurunden: Zur Acrylamidverordnung hat die Europäische Kommission vom 9. Juni bis 7. Juli 2017 sogar ein öffentliches Konsultationsverfahren durchgeführt (Zitat: „The Commission would like to hear your views“), in dem DEHOGA und IHA selbstverständlich Stellungnahmen abgegeben und ihre Bedenken klar artikuliert haben. Wie die Kommission die insgesamt eingegangen 73 Stellungnahmen aus ganz Europa schon einer validen Überprüfung unterzogen haben will, wird wohl ihr Geheimnis bleiben. An der Abstimmung im Ständigen Ausschuss am morgigen Mittwoch, 19. Juli, hält sie jedenfalls stoisch fest. Substantielle Nachbesserungen am Entwurf der Acrylamidverordnung lehnte die Kommission zuletzt am vergangenen Freitag, 14. Juli, gegenüber HOTREC kategorisch ab. Die gesetzliche „Pommes-Ampel“ könnte dann nur noch das Europäische Parlament stoppen. Das allerdings auch nur in toto, denn Nachbesserungen am Verordnungstext sind dann nicht mehr möglich. Dieses Szenario wäre im Brüsseler Komitologie-Kosmos auch extrem unwahrscheinlich.
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