Sisyphos
Blogpost von Markus Luthe zum Bürokratieabbau
Überbordende Bürokratie ist vor allem für kleine und mittlere Unternehmen zu einer Existenzfrage geworden. Sie treibt nicht nur die Kosten und hält immer mehr von der Verfolgung der eigentlichen Unternehmensziele ab, es steigt selbst für die Gesetzestreuesten das Risiko staatlicher Sanktionen und Bußgelder durch Unwissenheit und Komplexität.
So ist es im Grundsatz zu begrüßen, dass die Wirtschaftsverbände alle Jahre wieder aufgefordert werden, den Regierungen in Bund und Ländern konkrete Vorschläge zum Abbau unnötiger Bürokratie zu unterbreiten. So erst jüngst wieder geschehen durch Benjamin Strasser, den Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz und Koordinator der Bundesregierung für Bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau, der möglichst einfache und gut digitalisierbare Vorgänge und Regeln verspricht.
Aber warum befallen mich wohl Zweifel, ob dieses Sisyphos-Prozedere jemals zu einem nachhaltigen Erfolg führen wird? Nun, die Erfahrung lässt da nicht viel Spielraum für Hoffnungen – und ich beziehe mich ausdrücklich mal nicht auf die Digitalisierung des Hotel-Check-ins…
So verkündete die Bundesregierung am 29. September 2022 mit dem „Doppel-Wumms“ auch ein „Belastungsmoratorium“ für unverhältnismäßigen zusätzlichen Bürokratieaufwand für Mittelstand, Handwerk oder Industrie. Nüchtern betrachtet sind seitdem – ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit – dennoch in Kraft getreten:
- der Hinweisgeberschutz (auch wenn sich der Bundesrat am 10. Februar auf den letzten Metern des Gesetzesweges noch quergestellt hat, gilt die EU-Whistleblower-Richtlinie auch rechtsunmittelbar),
- das Nachweisgesetz,
- das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz,
- die Mehrwegangebotspflicht,
- das Transparenzregister,
- die verpflichtende Arbeitszeiterfassung (statt Vertrauensarbeitszeit),
- …
Dagegen helfen in der gesetzgeberischen Praxis letztlich leider keine wenn auch noch so löblichen Pauschalansätze, wie Sunset Legislation, Once-only-Prinzip oder One-in-one-out-Regeln, auch wenn auf EU-Ebene damit zumindest ab und zu mal experimentiert wird. Auch Normenkontrollräte oder verbindliche Bürokratiekostenfolgeabschätzungen werden das Bürokratie-Blatt nicht wenden.
Das Problem wurzelt viel tiefer und ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dem systematisch mit einem solchen „Pusten und Pflastern“ nicht beizukommen ist. Es bedürfte eines Resets der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an Politik.
Ich führe als Beleg mal meine „Vorzeige-Bürokratieregel“ an: Die A1-Bescheinigung, die die Reisefreiheit in Europa beschränkt und den Gemeinsamen Binnenmarkt ad absurdum führt.
Diese „Bescheinigung über die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit, die auf den/die Inhaber/in anzuwenden sind“ muss jeder in ein anderes europäische Land entsendete Geschäftsreisende zwingend bei sich führen, um dokumentieren zu können, welchem Sozialversicherungsrecht der Reisende unterliegt. Angestellte wie Selbständige müssen selbst für extrem kurze Dienstreisen zum Besuch einer Messe, eines Meetings, eines Workshops und selbst zum Betanken des Dienstfahrzeugs jenseits der deutschen Grenze bußgeldbewehrt eine solche A1-Bescheinigung bei sich führen.
Der Nutzen dieser seit vielen Jahren übergriffigen Regelung darf per se bestritten werden. Die Kosten nicht, sie sind immens. So hat eine von der Stiftung Familienunternehmen beauftragte vergleichende Studie des Centres for European Policy Network (CEP) und der Prognos AG ermittelt, dass im Vor-Corona-Jahr 2019 in den EU-Mitgliedsstaaten 4,6 Millionen A1-Bescheinigungen ausgestellt wurden (davon alleine 1,8 Millionen in Deutschland…), was für die deutsche Wirtschaft mal eben so eine vermeidbare Kostenbelastung von knapp 20 Millionen Euro jährlich bedeutet. Resignierendes Fazit: „Eine Dienstreise in die USA ist leichter als in die EU.“
An Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform mangelt es indes auch bei der A1-Bescheinigung nicht. Sowohl die Europäische Kommission (seit 2019), als auch die deutsche Bundesregierung (siehe Ampel-Koalitionsvertrag von 2021, S. 32) haben sich eine A1-Reform erklärtermaßen zum Ziel gesetzt. Passiert ist seitdem allerdings … genau: nichts!
So lange dieser A1-Unfug geltendes Recht bleibt, werden jedenfalls bei mir Ankündigungen oder Anregungsaufrufe der Bundesregierung zum Bürokratieabbau nunmehr unerhört verhallen.
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