A1 alles andere als 1A
Blogpost von Markus Luthe zur Reisefreiheit in Europa
Eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union ist die im Schengenraum, also das Recht, ohne Visum und nur im Besitz eines gültigen Ausweisdokuments in die Mitgliedstaaten der EU und auch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz einzureisen. Dachte ich. Denn diese unbürokratische, grenzenlose Freiheit gibt es in Europa nur für Urlaubsreisende, nicht für Geschäftsreisende, wie mich zum Jahreswechsel einige Fachartikel belehrten.
Denn ein Monstrum namens „A1-Bescheinigung“ führt die Reisefreiheit und den gemeinsamen Binnenmarkt ad absurdum. Diese „Bescheinigung über die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit, die auf den/die Inhaber/in anzuwenden sind“ muss jeder in ein anderes europäisches Land entsandte Geschäftsreisende zwingend bei sich führen, um dokumentieren zu können, welchem Sozialversicherungsrecht der Reisende unterliegt. Dies gilt selbst für extrem kurze Dienstreisen zum Besuch einer Messe, eines Meetings, eines Workshops und selbst zum Betanken des Dienstfahrzeugs jenseits der deutschen Grenze ist eine A1-Bescheinigung zwingend erforderlich. Das gilt für Angestellte ebenso wie für Selbständige.
Seit dem 1. Januar 2019 muss die A1-Bescheinigung nun elektronisch angefordert werden. Für jede einzelne Dienstreise ins europäische Ausland muss damit eine Vorlaufzeit von 3-4 Tagen eingeplant und die Buchhaltung für die elektronische Beantragung vorab mit an Bord genommen werden. Das Original der Bescheinigung ist dem Mitarbeiter auszuhändigen. Er muss es während seiner Auslandstätigkeit stets bei sich tragen, eine Kopie kommt in die Personalakte. Sollte die Bescheinigung zu Beginn der Dienstreise nicht vorliegen, ist der ausgedruckte Antrag, der bereits an die Krankenversicherung oder Rentenversicherungsträger versandt wurde, in Kopie bei sich zu führen. Zudem ist der Arbeitsvertrag stets griffbereit mit sich zu führen. Bei einer Kontrolle im Ausland wird bei fehlender A1-Bescheinigung (ohne vorherigen Antrag) der Einsatz des Arbeitnehmers als nicht versicherte Tätigkeit und somit als Schwarzarbeit angesehen.
Was für ein Wahnsinn!
Richtig aufgeschreckt wurde ich zugegebenermaßen aber erst durch Berichte, dass vor allem in Frankreich und Österreich seit Jahresanfang verstärkt kontrolliert werde, ob dienstreisende Ausländer eine A1-Bescheinigung vorweisen können. Angeblich ließen sich Prüfer am Flughafen A1-Bescheinigungen vorzeigen und blätterten an der Hotelrezeption in Gästelisten und Meldescheinen, um gezielt Geschäftsreisende identifizieren zu können. Bei einer fehlenden Entsendungserklärung – und die ist de facto erst mit der A1-Bescheinigung vollständig – drohen etwa in Frankreich Sanktionen von bis zu 2.000 Euro pro entsandtem Arbeitnehmer sowie bis zu 500.000 Euro Bußgeld.
Mein Arbeitsplatz ist Europa. Ich habe bei meinen fast wöchentlichen Dienstreisen ins europäische Ausland allerdings noch nie an das Entsenderecht gedacht. Ich bin nicht entsendet – ich bin entsetzt!
Selbstverständlich sind wir bemüht, uns nun seit Kenntnisnahme trotz der massiven Arbeitsbeeinträchtigung durch A1 rechtskonform zu verhalten. So wollten wir bei der Krankenkasse eine Art Dauerbescheinigung (digital oder analog) für mich für einige besonders häufig aufzusuchende Länder erhalten, um zumindest nicht für jede meiner oftmals kurzfristigen Reisen nach Brüssel Sankt Bürokratius anrufen zu müssen. Aber selbst das ist faktisch nicht möglich.
In mir reifte also in den letzten Wochen der Entschluss, meiner Frustration über unsichtbare Grenzen der Reisefreiheit in Europa mit einem Blogpost Linderung zu verschaffen, als sich in der vergangenen Woche ein Lichtschimmer am Horizont abzeichnete. Denn offensichtlich vollzieht die EU-Kommission noch gerade rechtzeitig zur Europawahl eine Kehrtwende und will den Sozialversicherungsstatus von ins Ausland entsandten Arbeitnehmern von den nationalen Behörden künftig anders überprüfen lassen. Wann konkret mit der förmlichen Abschaffung von A1 zu rechnen ist, bleibt allerdings noch offen.
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