Schafft Wissen!
Blogpost von Markus Luthe zur Corona-Krise
Die Bundesregierung und die Ministerpräsident*innen legen Wert auf die Feststellung, unser Land evidenzbasiert und wissenschaftlich fundiert durch die Corona-Krise und den Lockdown zu führen. Dieses Narrativ wird gerne auch durch Einladungen namhafter Wissenschaftler zu Beginn der jeweiligen Entscheidungsgipfel gepflegt. Umso buchstäblich fragwürdiger ist das dann anschließend verkündete Öffnungsszenario, bei dem Restaurants und Hotels erst ganz, ganz hinten im noch nicht einmal ausgearbeiteten Zeitplan einsortiert werden. Auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten können sich die Entscheidungsträger*innen dabei jedenfalls nicht berufen.
Wir haben schon im Oktober darauf hingewiesen, dass Hotels garantiert keine Infektionstreiber sind. Der tägliche Situationsbericht des Robert Koch-Instituts listet Hotels seit dem erstmaligen Ausweisen der Infektionsumfelder im Sommer 2020 kontinuierlich an der untersten Schwelle der statistischen Nachweisbarkeit aus. Dies relativiert sich auch nicht durch den Hinweis, dass die Gesundheitsämter in mehr als 80 Prozent der Fälle nicht (mehr) in der Lage sind, das Infektionsumfeld überhaupt zu ermitteln. Gegenfrage: Wie wahrscheinlich ist es denn, dass ein/e Corona-Infizierte/r bei der Befragung sich ausgerechnet daran nicht erinnert, ob er/sie in den letzten zehn Tagen in einem Hotel übernachtet hat? Das ist alles andere als plausibel! Und in keinem anderen Wirtschaftsbereich wäre ein lückenloses Tracing aufgrund der gesetzlichen Meldepflicht so sicher möglich wie in der Hotellerie.
Quelle: Täglicher Situationsbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) vom 9. Februar 2021, Seite 12, Abb. 8.
Um diese fehlende Datenbasis und eklatante Wissenslücken endlich zu schließen, hat das Robert Koch-Institut dann im November eine breit angelegte Studie zu Corona-Virus Risiko- und Schutzfaktoren (CoViRiS) aufgelegt, die Erkenntnisse liefern soll, in welchen Situationen ein erhöhtes Infektionsrisiko mit SARS-CoV-2 vorliegt. An der Studie können nur Personen teilnehmen, die aufgrund eines positiven SARS-CoV-2-Tests an ihr zuständiges Gesundheitsamt gemeldet wurden. Die Studie wird mittels strukturierten Fragebogens so lange fortgesetzt, bis 1200 Teilnehmer*innen befragt wurden (voraussichtlich bis Frühjahr 2021).
Das Problem? Die RKI-Studie ist schon von ihrem Design her nicht geeignet, die Frage zu beantworten, ob Hotels oder Gaststätten zum Infektionsgeschehen beitragen! Und ist somit in diesem Punkt für die Politikberatung von Anfang an unbrauchbar!
So hat uns auf Nachfrage das Robert Koch-Institut in der vergangenen Woche folgendes mitgeteilt: „Für die Studie gibt es noch keine Ergebnisse oder Zwischenergebnisse. … Aussagen darüber, ob Hotelaufenthalte mit einem erhöhten Covid-Infektionsrisiko verbunden sind, werden nur gemacht werden können, wenn Hotelaufenthalte während der weiteren Laufzeit der Studie auch wieder in nennenswertem Umfang möglich sein werden.“
Da Restaurants und Hotels seit dem 2. November faktisch geschlossen sind, werden bis zum Abschluss der Studie im Frühjahr somit auch keine Rückschlüsse auf Hotels und Restaurants als Infektionstreiber gezogen werden können. Und ohne belastbare RKI-Erkenntnisse scheuen sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsident*innen offensichtlich, einen Stufenplan zum Re-Start des Gastgewerbes auch nur anzudiskutieren. Das hat schon mehr als nur kafkaeske Züge des Absurden. Da darf man sich durchaus verschaukelt fühlen!
Wenn denn schon das RKI nur wenig bis nichts zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen kann, gibt es andere wissenschaftliche Studien zum Infektionsgeschehen in Hotellerie und/oder Gastronomie? Uns sind insgesamt vier bekannt (in chronologischer Reihenfolge):
- Mit der für die betriebliche Praxis kaum relevanten Aussagekraft der am 9. September final veröffentlichten Studie chinesischer Wissenschaftler (u.a. des Beijing Instituts für Mikrobiologie und Epidemiologie) mit dem Titel „Detection of Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 RNA on Surfaces in Quarantine Rooms“ haben wir uns schon in unserem Blogpost „Aha“ auseinandergesetzt. Ad acta!
- Die am 11. September vom Center for Disease Control and Prevention des US Department of Health and Human Services vorgelegte Studie „Community and Close Contact Exposures Associated with COVID-19 Among Symptomatic Adults ≥18 Years in 11 Outpatient Health Care Facilities” hat bereits Einfluss auf behördliches Handeln in Deutschland genommen, da sie zum Beispiel in der Landesverordnung des Saarlands zur Begründung der Betriebsuntersagungen in § 7 ausdrücklich angeführt wird. Sie verdient schon von daher einen genaueren Blick.
Im Untersuchungszeitraum 1. – 29. Juli wurden aus elf über die USA verteilten Gesundheitszentren zufallsgesteuert Kontaktdaten von 615 positiv und 1.212 negativ Getesteten (allesamt mit Symptomen) erhoben und letztlich das Sozialverhalten von 154 „case patients“ (positiver Covid-19-Test) mit 160 „control patients“ (negativer Covid-19-Test) miteinander verglichen. In der Studie wurde eine erhöhte Infektionswahrscheinlichkeit für die Gastronomie ermittelt, da etwa doppelt so viele „case patients“ wie „control patients“ in den 14 Tagen vor ihrem Krankheitsausbruch in einem Restaurant („indoor, patio, outdoor“) gegessen haben. Die Studienteilnehmer machten Angaben zu ihrem eigenen Masken-Trageverhalten und zu dem der Personen an den aufgesuchten Orten (Restaurants, Einkaufszentren, Kirchen, ÖPNV, etc.) und zum dortigen Einhalten von Abstandsregeln (weniger als 1,8 m für mehr als 15 Minuten).
Die Aussagekraft der Studie wird allerdings durch zahlreiche Faktoren eingeschränkt:
a) Die „control patients“ waren ihrerseits krank (wenn auch nicht Covid-19), was unbestimmbare Abweichungen zu einer wirklich gesunden Vergleichsgruppe begründen kann; auch hätte deren Anzahl idealerweise doppelt so groß sein müssen (1:2).
b) Alternative Ansteckungsorte können in der Studie vergessen worden sein, denn Angaben wie z.B. zu schulpflichtigen Kindern oder Berufen der Teilnehmer sind nicht zu finden.
c) Das Sozialverhalten der Kontrollgruppe könnte verzerrt gewesen sein, da sie überdurchschnittlich häufig mit „non-Hispanic White“, mit Menschen höheren Bildungsabschlusses und mindestens einer anderen Krankheit besetzt war, was ein vorsichtigeres Sozialverhalten oder eine Kontaktmeidung zu potenziell Infizierten ausgelöst haben könnte.
d) Von den 314 Studienteilnehmer gaben überhaupt nur 107 an, in einem Restaurant gewesen zu sein und nur 21 Teilnehmer waren in einer Bar/Coffee-Shop. Von diesen 128 Gastrobesuchern berichteten die positiv Getesteten drei Mal häufiger als die negativ Getesteten, dass nicht alle Gastronomiemitarbeiter dort Masken getragen und Abstände eingehalten hätten und in 7 Fällen wurde die Luftzirkulation im Restaurant bemängelt. Spätestens an dieser Stelle verlässt die Studie dann wohl belastbaren Boden, sowohl bei der Fallzahl, als auch bei der Präzision der Verfehlungsbeobachtungen.
e) Auch wurden bei den Angaben zum Restaurantaufenthalt keine Angaben zu Indoor oder Outdoor erhoben und bei Bar oder Coffee-Shop keine zu Bedienung oder Selbstbedienung, was ja nach allen sonstigen wissenschaftlichen Erkenntnissen Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen haben sollte.
f) Den Studienteilnehmern ist zudem ihr eigenes Covid-19-Testergebnis bekannt gewesen, was Einfluss auf die Angaben gehabt haben könnte. Ein Effekt des „Schuldigen suchen“ könnte bei dieser Gruppe unbewusst aufgetreten sein.
g) Und selbstverständlich könnte nach Angaben der Studienverfasser auch schon die allgemeine Ungenauigkeit der PCR-Testung Ergebnisse verfälscht haben, wenn z.B. auch nur einige wenige negativ Getestete in Wahrheit doch positiv und nur ohne schweren Krankheitsverlauf gewesen wären.
- Am 10. November veröffentlichte das Department of Computer Science der Stanford University zusammen mit anderen Instituten die Studie „Mobility network models of COVID-19 explain inequities and inform reopening“, in der Mobilfunkdaten aus zehn der größten US-Städte ausgewertet und in Relation zum Infektionsgeschehen gesetzt werden. Es flossen stündlich Bewegungsdaten von 98 Millionen Menschen an 552.758 Points of Interest ein. Am Beispiel des Großraums Chicago wird ausdrücklich vor einem erhöhten Risiko beim Wiedereröffnen von Restaurants mit Bedienung gewarnt.
Aber lassen sich daraus Rückschlüsse für den Re-Start des Gastgewerbes in Deutschland im Frühjahr 2021 ziehen? Aus der Studie wird jedenfalls nicht ersichtlich, ob die einbezogenen Restaurants überhaupt Hygienekonzepte und Schutzmaßnahmen umgesetzt haben. Der Untersuchungszeitraum 8. März bis 9. Mai 2020 spricht in einem Land, das noch im November bei der Präsidentschaftswahl einen notorischen Corona-Leugner nur mit knapper Mehrheit abwählte, eher nicht dafür. Die Prognosekraft dieser Studie für das Verhalten der deutschen Bevölkerung in deutschen Restaurants mit strikt eingehaltenen Hygieneprotokollen darf von vornherein als arg limitiert gelten.
- Am 11. Februar berichtete der Berliner Tagesspiegel in Auszügen aus einer ihm vorliegenden Untersuchung der Technischen Universität Berlin zum Ansteckungsrisiko in geschlossenen Räumen bei Schulen, Kitas, Geschäften, Friseuren oder eben auch Restaurants unter Einhaltung der gängigen Hygiene-, Abstands- und Lüftungsregeln. Hierzu leitet die Studie sogenannte situationsbedingte R-Wert ab. Ein R-Wert von 1 bedeute, dass sich in einer bestimmten Situation oder in einem bestimmten Raum bei einem Infizierten eine weitere Person ansteckt.
Die Lüftungsstudie leitet mit Infektionsmodellen ab, dass ein Supermarkt mit Maskenpflicht einen R-Wert von 1 aufweise und ein Restaurant bei einer 25%igen Belegung einen R-Wert von 1,1 und bei einer 50%igen Belegung einen R-Wert von 2,3. Eine dreistündige Bahnfahrt komme bei 50%iger Belegung auf einen situationsbedingten R-Wert von 1,5 und eine Oberschule mit 50%iger Belegung auf einen R-Wert von 2,9.
Auf dieser Grundlage wird man wohl kaum von einer evidenzbasierten, wissenschaftlich fundierten Lockdown-Politik sprechen können. Schafft endlich Wissen und gebt der Branche eine Chance, sich aus diesem gänzlich unverschuldeten Dilemma wenigstens herauszutesten!!
5 Kommentare
16/02/2021 12:37 von Kreuzig / BBG-Consulting
16/02/2021 14:54 von Markus Luthe / Hotelverband Deutschland (IHA)
Aktueller Nachtrag:
Das RKI hat heute sein Epidemiologisches Bulletin 8 | 2021 vom 25. Februar 2021 schon online vorab veröffentlicht, das reiseassoziierte Covid-19-Fälle im Sommer 2020 unter Berücksichtigung der Schulferien, Reisetätigkeit und Testkapazitäten betrachtet. Das Bulletin verzeichnet über den Sommer 2020 einen vorübergehender Anstieg der Fallzahlen. Diese „Sommerferienwelle“ reiseassoziierter Covid-19-Infektionen wird näher beschrieben und in Beziehung zu den Schulferien, Angaben zur Reisetätigkeit und den Testkapazitäten gesetzt.
Die RKI-Studie nennt die Länder, aus denen im Sommer 2020 das Coronavirus am häufigsten nach Deutschland eingetragen wurde: Kosovo, Kroatien, Türkei, Bosnien-Herzegowina und Rumänien; allesamt Länder, aus denen insbesondere Saison- und Vertragsarbeiter nach Deutschland kommen, aber auch Heimatländer von Einwanderern. Erst danach und zahlenmäßig mit größerem Abstand folgen beliebte Urlaubsländer, wie z.B. Spanien oder Frankreich.
Daraus kann man den Rückschluss ziehen, dass es bei organisierten Reisen in Urlaubsländer zu weniger intensiven Kontakten mit der Bevölkerung und damit zu einem geringen Ansteckungsrisiko kam. Oder mit anderen Worten: Hygienekonzepte im Tourismus wirken!
Wörtlich heißt es dazu beim RKI: „Dazu beigetragen haben vermutlich auch die Übernachtungen in Hotels, die im vergangenen Sommer oftmals Hygieneregeln unterlagen.“
Sic!
25/02/2021 13:06 von Markus Luthe / Hotelverband Deutschland (IHA)
"Auffallend ist, dass viele Bereiche, die derzeit ganz oder teilweise geschlossen sind, in den Überlegungen des RKI keine größere Rolle spielen. Hotels wird in allen Bereichen eine geringe Relevanz zugeschrieben, auch Zusammenkünfte im Freien gelten laut RKI vielfach als unkritisch."
https://zeitung.faz.net/faz/politik/2021-02-25/e3c91fc0725a683f507b492e5cec0709/?GEPC=s5
08/03/2021 13:02 von Markus Luthe / Hotelverband Deutschland (IHA)
Es gibt nun eine sechste Studie, die Restaurants als potenzielle Treiber des Covid-19-Infektionsgeschehens analysiert. Prof. Dr. Karl Lauterbach hat sie gestern (7. März) bei der ARD-Talkshow „Anne Will“ gleichsam als seinen Kronzeugen gegen die Öffnung der Innenbereiche von Restaurants in Deutschland ins Feld geführt. Sie stammt wiederum vom US Centers for Disease Control and Prevention (C.D.C.) und wurde am 5. März in einer vorläufigen Fassung veröffentlicht.
Und: Auch sie kann nicht überzeugen und bleibt einen schlüssigen Beweis schuldig.
Lesen Sie dazu hier:
Die CDC-Studie „Association of State-Issued Mask Mandates and Allowing On-Premises Restaurant Dining with County-Level COVID-19 Case and Death Growth Rates — United States, March 1–December 31, 2020”
Den Bericht der New York Times hierzu vom 5. März: „The Virus Spread Where Restaurants Reopened or Mask Mandates Were Absent”
Die Stellungnahme der US National Restaurant Association (NRA) ebenfalls vom 5. März: „Sharks and Ice Cream; COVID-19 and Restaurants”
17/08/2022 14:46 von Markus Luthe / Hotelverband Deutschland (IHA)
Medizinstatistiker übt heftige Kritik: „Lauterbachs Aussagen können fundamental nicht stimmen“
https://www.focus.de/gesundheit/news/statistiker-mit-heftiger-kritik-lauterbachs-aussagen-koennen-fundamental-nicht-stimmen_id_136586892.html">https://www.focus.de/gesundheit/news/statistiker-mit-heftiger-kritik-lauterbachs-aussagen-koennen-fundamental-nicht-stimmen_id_136586892.html</a>
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