In die Röhren geschaut...
Blogpost von Markus Luthe zur Energieversorgung
Niemand weiß derzeit, ob und in welchem Umfang Russland nach der routinemäßigen Wartung der Pipeline Nord Stream 1 Ende Juli die Lieferung von Gas nach Deutschland wieder aufnehmen wird. Im völkerrechtswidrigen und barbarischen Angriffskrieg auf die Ukraine setzt der russische Aggressor den Hunger in der Welt und die Energiezufuhr für Westeuropa als strategische Kriegsziele ein. Und Deutschland muss aufgrund seiner jahrzehntelang sehenden Auges eingegangenen Energieabhängigkeit von Russland Wirkungstreffer hinnehmen – Verbraucher wie Wirtschaft gleichermaßen.
Auf den letzten Drücker versucht die Bundesregierung, mit Notmaßnahmen am Unfallort noch das Schlimmste zu verhindern. Aber ob die gestern vom Bundeskabinett auf Basis des neuen Ersatzkraftwerkebereithaltungsgesetzes beschlossene und bereits heute in Kraft tretende „Verordnung zur befristeten Ausweitung des Stromerzeugungsangebots durch Anlagen aus der Netzreserve“ wirklich eine Entspannung der Lage bringt, darf bezweifelt werden. Immerhin erlaubt sie bis zum Ende des Winters 2022/2023 die befristete Rückkehr von Öl- und Kohle-Kraftwerken an den Strommarkt, die sich aktuell in der Netzreserve befinden. Ein Weiterbetrieb der drei noch verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland bleibt ein Tabu.
Deutschland droht tatsächlich, schneller als je erwartet buchstäblich „in die Röhre(n) zu schauen“. Der Schock eines Ausbleibens der Gaslieferungen hätte dramatische Auswirkungen auf sehr viele Verbraucher und fast alle Wirtschaftssektoren.
Die Hotellerie wäre gleich mehrfach betroffen: Vom konjunkturellen Ausbleiben der Gäste, von direkten Einschränkungen im Betrieb und durch indirekte Störungen der Zulieferkette, wie etwa der im Wesentlichen auf Gas basierenden Wäschereinigung in Großwäschereien. So bangen die Hoteliers wie Unternehmen fast aller Branchen, wann der mögliche Gasboykott möglicherweise sie selbst betrifft.
Antworten zu den Prioritäten liefert der „Notfallplan Gas“ der Bundesrepublik Deutschland aus September 2019. So regelt § 53a des Gesetzes über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz - EnWG) die Sicherstellung der Versorgung von Haushaltskunden mit Erdgas. Entscheidend ist, wer als „Geschützter Kunde“ im Sinne des Artikels 2 Nr. 5 VO 2017/1938 gilt. „Geschützte Kunden“ sind von Gasversorgungsunternehmen direkt belieferte
- Haushaltskunden sowie weitere Letztverbraucher im Erdgasverteilernetz, bei denen standardisierte Lastprofile anzuwenden sind, oder Letztverbraucher im Erdgasverteilernetz, die Haushaltskunden zum Zwecke der Wärmeversorgung beliefern und zwar zu dem Teil, der für die Wärmelieferung benötigt wird,
- grundlegenden soziale Dienste im Sinne des Artikels 2 Nummer 4 der Verordnung (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2017 im Erdgasverteilernetz und im Fernleitungsnetz,
- Fernwärmeanlagen, soweit sie Wärme an Kunden im Sinne der Nummern 1 und 2 liefern, an ein Erdgasverteilernetz oder ein Fernleitungsnetz angeschlossen sind und keinen Brennstoffwechsel vornehmen können, und zwar zu dem Teil, der für die Wärmelieferung benötigt wird.
Haushaltskunden sind gemäß § 53a i. V. m. § 3 Nr. 22 EnWG Letztverbraucher, die Energie für den Eigenverbrauch im Haushalt nutzen oder deren Jahresverbrauch für berufliche, landwirtschaftliche oder gewerbliche Zwecke 10.000 Kilowattstunden (kWh) nicht übersteigt. Darunter können durchaus auch kleine und mittlere Unternehmen aus Gewerbe, Handel oder Dienstleistungen fallen, für deren Verbrauchsallokation der Gasnetzbetreiber gemäß § 24 GasNZV standardisierte Lastprofile verwendet, demnach also keine Leistungsmessung erfolgt.
In aller Regel dürften größere Hotels jedoch keine „geschützten Kunden“ nach Wortlaut des Gesetzes sein. Laut Aussage der Energieexperten von ENGIE erfolgt bei größeren Hotels in der Regel und ab einem jährlichen Verbrauch von mehr als 1,5 Millionen kWh zwingend eine registrierende Leistungsmessung (RLM) mit Monatsrechnung, somit also keine Abrechnung über standardisierte Lastprofile.
Es ist daher begrüßenswert und hoffentlich mehr als nur ein Debattenventil, dass Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck nun die absolute Priorität von Privathaushalten bei der Gasversorgung infragestellt. Die entsprechende Regelung sei für kurzfristige Störungen vorgesehen, nicht für monatelange Unterbrechungen. Aus seiner Sicht könne die Industrie nicht automatisch nachgereiht sein.
Recht hat er! Ich drücke das mal mit meinen Worten - zugegebenermaßen überspitzt - aus: Was nützt es, im Winter zuhause warm, aber arbeitslos zu sein?
1 Kommentare
22/07/2022 11:56 von Markus Luthe / Hotelverband Deutschland (IHA)
Bundeswirtschaftsminister Dr. Robert Habeck hat hierzu gestern eine Erklärung abgegeben und unter Nr. 3 angekündigt, dass es zur Heizperiode 2022 eine neue Verordnung geben wird:
"Dazu plant das BMWK in enger Abstimmung mit anderen Ressorts der Bundesregierung zusätzliche Energie- und Effizienzmaßnahmen auf der Grundlage des novellierten Energiesicherungsgesetzes (§ 30 EnSiG). Dieses erlaubt es der Bundesregierung, zur Vorsorge auch schon vor dem Krisenfall per Rechtsverordnung Maßnahmen zur Energieeinsparung zu treffen. Ein Teil der Maßnahmen wird auf sechs Monate befristet sein, ein Teil auf zwei Jahre, um auch für den kommenden Winter zu wirken."
Gesetzliche Grundlage (novelliert): § 30 Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung (Energiesicherungsgesetz - EnSiG)
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